Scenes; British Film Institute
THE CIRCUS 2/3
So gross, so modern, so radikal – Der dahergelaufene
Tramp! Er hat weder Vergangenheit noch
Zukunft, nur seine Gegenwart, die den Film allein
zu tragen hat. So gross, so modern, so
radikal im existentiellen Sinn ist Chaplin. Clippings.
Fritz Hirzel, The Circus, TagesAnzeiger, 13. Sept. 1973
Die Leute zum Lachen bringen: spontan und unbewusst
gelingt es dem dahergelaufenen Tramp spielend,
doch auf einmal, wenn er vom Zirkusdirektor dazu aufgefordert
wird, kann er es nicht mehr. So ist der 1927 unter
grossen Schwierigkeiten entstandene The Circus jenes
Meisterwerk, in dem Chaplin die Komik selbst
zum Subjekt der Handlung macht. Dieser Film ist so einfach
und schön, dass er in seiner Klarheit auf den Beschauer
wirkt wie ein einsamer, erregender Traumflug. Die Archetypen
menschlicher Komik werden aufgedeckt, als ob es um
Kartenlesen ginge. Das Lachen, die verdrängte Angst, wird zum
Bild, nimmt Gestalt an: der Esel, der jedes Mal auf den
abgerissenen Charlie losgeht, wenn sie sich kreuzen, der
Löwenkäfig, in den der Flüchtende sich verirrt,
bemüht, die schlafende Bestie nicht aufzuwecken, der
Spiegelsalon, in dem er sich seinem Verfolger
unversehens gegenübersieht, mit der Vervielfachung der
Personen in den Spiegeln, der Auflösung der Körper,
die den Figuren etwas täuschend Unangreifbares verleiht, die
Jahrmarktsorgel mit den Wachsfiguren, in die der
fliehende Tramp sich einreiht, unter den Augen des staunenden
Polizisten mechanisch sich drehend und wendend wie
die Puppen aus Gips.
Die Verwandlung, die eine feindliche Welt Charlie aufnötigt,
geht für Augenblicke bis zur vollkommenen Selbstauflösung. Er muss
sich unsichtbar machen, wenn er davonkommen will. Noch
in der Verleugnung seiner selbst erweckt er den Eindruck eines
Siegers. Das ist das Erstaunlichste an diesem Verlierer,
der so arm und elend am Ende davonzieht, wie er am Anfang dahergekommen ist, als er sich hungrig und pleite hinter
die anderen Zuschauer stellte. Mit nichts tritt er einer Welt
gegenüber, die zuallerletzt auf ihn gewartet hat. Er hat
weder Vergangenheit noch Zukunft, nur seine Gegenwart, die den
Film allein zu tragen hat. So gross, so modern, so radikal
im existentiellen Sinn ist Chaplin.
The Circus Clippings
The American Venus-Trailer, 1926, with Louise Brooks, 1‘ 07“