– Modern Times Clippings
MODERN TIMES 1/6
Die erste. Titine – Erste Worte des Tramps? Er singt!
New Deal, überall Massenarbeitslosigkeit – wie
die Linke Chaplin vereinnahmt. Das Scenario zu Modern
Times entwickelt er auf seiner Yacht! Drei Annäherungen.
Sie hinterfragen Einstellungen. Clippings.
Fritz Hirzel, Modern Times, Filmpodium Zürich 1980er
Die erste. Titine
Ei pwu el se domtroco
La spinach or la tuko
Cigaretto toto torio
E rusho spagaletto
Senors ce la tima
Voulez-vous la taxi meter
Le jonta tu la zitta
Je le tu le tu le twaa
La der la ser pawnbroker
Lusern apprer how mucher
E se confess a potcha
Ponka walla ponka wa
(I)
Se bella piu satore, je notre so catore,
Je notre qui cavore, je la qu‘, la qui, la quai!
Le spinach or le busho, cigaretto toto bello,
Ce rakish spagoletto, si la tu, la tu, la tua!
Senora pelafima, voulez-vous le taximeter,
La zionta sur la tita, tu le tu le tu le wa!
(II)
Das sind – in Modern Times 1936, sehr spät im zweiten Teil
des Films und gesungen! – die ersten Worte des Tramps,
zitiert nach der Zeitschrift Stage vom März 1937 (I) oder David
Robinsons Buch Chaplin von 1985 (II).
Die Musik zum Nonsense-Song – Je cherche après Titine
– ist von Leo Daniderff.
In der chaplinesken Ikonographie ein historischer Augenblick:
aus dem Vagabunden ist ein Arbeitsloser geworden.
Paulette Goddard – The gamin heisst sie im Film ganz einfach
– will Charlie einen Job vermitteln.
Sie stellt ihn im Lokal vor. Bohrende Frage des
Geschäftsführers: „Können Sie servieren?“ Ein besorgtes
Nicken. „Können Sie singen?“ Charlie kann beides
nicht. Er hat nichts gelernt.
Doch, da Paulette daneben steht, murmelt er ein
stummes Ja, mit furchtbar schlechtem Gewissen. Er will sie
nicht enttäuschen.
Zur Charakterisierung des Lokals: Charlie als Kellner,
der in den Käse mit dem Bohrer Löcher bohrt, bevor er ihn
als Emmentaler serviert. Mit der gebratenen Ente
tanzt er im Gedrängel der Leute auf dem Tanzparkett
notgedrungen zwei Runden.
Man sieht über all den Köpfen nur den Teller mit der Ente,
bis der Deckenleuchter sie aufspiesst und Athleten
im Sportdress sie schnappen.
Charlie bekommt sie endlich wieder in den Griff und
bringt sie dem erzürnten Gast von Hand mit solchem Sprung,
dass der Tisch zusammenklappt.
Der Auftritt als singender Kellner: Er kann den Liedtext
nicht behalten. Paulette schreibt ihm den Text
auf die Manschette, die wegfliegt bei der ersten grossen Geste.
Nun muss er improvisieren. Der Nonsense-Song mit den
Worthülsen im Kauderwelsch – die versprengte Internationale
der Dadaisten mag schwelgen – ist ohnehin besser.
Hier, in dieser kurzen Passage, holt Chaplin den Tonfilm ein,
den er solange ferngehalten hat. Er, der Stummfilmstar,
hat Sprache, die nicht Pantomime ist – Sprache, die in keinem
Wörterbuch zu finden ist und deshalb in diesem oder
jenem Erdteil verstanden wird, mit Mimik und Gestik inszenierte
Metasprache.
The Singing Waiter: das ist im Augenblick, wo der Tonfilm
Charlie beim Wickel packt, eine grosse Geste an die Music Hall...
Chaplin singt! und das im Film...
„Keaton sagte mir einmal, er und Chaplin hätten das
Geräusch der gekurbelten Kamera vermisst, nachdem sie keine
Stummfilme mehr gemacht hätten. Des Rhythmus wegen“,
berichtet Penelope Gilliatt in The New Yorker.
Es ist Walter Kerr, der – in The Silent Clowns – auf den
wechselnden Rhythmus bei der Aufnahme durch den Kameramann
im Studio hingewiesen hat, auf die Umstellung von
Stummfilm- zur Tonfilm-Geschwindigkeit, auf Chaplins kurzes
Faxenschneiden, bevor er zu singen anfängt: die Zeit,
um die Geschwindigkeit zu wechseln.
Bei Chaplin dauerts im fertigen Film ein Augenzwinkern,
im Leben jahrelang. Talkies? Der Stummfilmclown und Filmemacher
weiss lange nicht, was er noch soll.
Die zweite. The Masses
Massenarbeitslosigkeit, Tiefpunkt der Depression: Franklin D.
Roosevelt – New Yorks Gouverneur hat „a new deal for
the Anerican people“ verheissen – tritt 1933 sein Amt als Amerikas
neuer Präsident an.
Roosevelt wird 1936 – dreiviertel Jahr nach dem Start
von Modern Times – problemlos wiedergewählt. Im Land sind
gegen zwei Millionen Menschen unterwegs auf der Suche
nach Arbeit oder einem warmen Essen.
Die Krise trifft auch die Filmindustrie. In Hollywood hat sich der
Konflikt zwischen Produzenten und Gewerkschaften
in den Studios verschärft.
Der Schriftsteller Upton Sinclair (The Jungle) lässt sich 1934
unter der EPIC (End Poverty in California) Kampagne
bei den Demokraten als Gouverneurskandidat nominieren.
Falls wie angedroht Studiobosse nach Florida abwanderten,
wolle er den Staat in die Filmproduktion einsetzen.
„I‘ll ask Charlie Chaplin to run part of the show“, sagt Sinclair.
Chaplin sympathisiert, nimmt Teil: 1933 mit einer Rede,
die er für Roosevelts National Recovery Administration NRA bei
CBS Radio hält, 1936 mit 500 Dollar Wahlkampfspende.
Er hat – im Oktober 1934 – mit Dreharbeiten begonnen,
er will näher an die soziale Wirklichkeit heran. Er stellt mit einem Dementi richtig: sein neuer Film sei keine Satire
auf die NRA.
Im März 1935 erklärt er in der New York Times, sein Film
enthalte keine politischen Schlüsse, aber als Arbeitstitel wird
The Masses genannt. New Masses heisst in den
Dreissigerjahren das Blatt der amerikanischen Kommunisten.
„Chaplin ist verärgert. Die Roten versuchen seinen Film
zu benutzen“, schreibt Motion Picture Herald im Dezember 1935.
„Er ist sicher auch ein Philosoph, ein nicht allzu
optimistischer, aber er ist zuallererst ein Showman – wie sein
grosses bürgerliches Vermögen beweist.“
Die Modern Times-Premiere verzögert sich. Zuerst ist
der Film für Oktober 1935 angekündigt, dann für Dezember,
dann Mitte Januar 1936.
Schliesslich hat er in der ersten Februarwoche Premiere.
Und die New York Times fragt: „Sociological concept? Maybe.
But...“ In der Kritik wird Chaplin zitiert: „Es gibt Leute,
die meinem Werk soziale Bedeutung beimessen. Es hat keine.
Das ist ein Thema für Vortragsredner. Meine Absicht
ist zuerst zu unterhalten.“
Was ist geschehen? Das Dilemma ist, dass er zwar einen
Film mit sozialem Engagement macht, aber nicht nur, und
das Dilemma spitzt sich zu, als im Sommer 1935 mit Boris Z.
Shumiatsky der erste Mann der sowjetischen Filmindustrie
Hollywood besucht, dem Chaplin einen Rohschnitt zeigt.
Chaplin habe „ein Dokument geschaffen, das im sozialen
Kampf Partei ergreift“, schreibt Shumiatsky darauf in der
Prawda. Über New Masses und Daily Worker kommt das in die
New York Times und Chaplin dementiert: Er will sich das
Geschäft nicht von der Politik verderben lassen.
In Amerika spielt die für Modern Times ausgearbeitete
Promotion Kampagne die politischen Absichten des
Films herunter. Stattdessen konzentriert sie sich – notiert
Charles J. Maland in Chaplin and American Culture –
auf seinen Unterhaltungswert und auf Charlies Rückkehr nach
fünfjähriger Abwesenheit von der Leinwand.
Die Linke jubelt trotzdem. „Der Gedanke allein, dass es
möglich gewesen ist, solch einen Film zu machen
und herauszubringen, machte mich sprachlos“, schreibt in New
Masses der Kritiker. „Es ist, was wir uns erträumten
und nie zu sehen hofften...“
„Für alle, welche die finanzielle und ideologische
Verfassung Hollywoods kennen, ist Modern Times nicht sosehr
ein feiner Film als ein historisches Ereignis.“
Die dritte. Panacea
Gertrude Stein gibt, in Amerika angekommen, eine
Einladung für Chaplin und Dashiel Hammett, die sie beide
kennenlernen will. Mit Chaplin ist Paulette Goddard
gekommen, mit Hammett Lillian Hellman, die sich im Interview
mit The Paris Review an eine wunderschöne chinesische
Spitzendecke erinnert:
„Chaplin warf eine Kaffeetasse um und verschüttete
alles auf diese wunderschöne Tischdecke und das erste, was
Miss Stein sagte, war: ‚Das ist nicht so schlimm, ich habe
ja nichts abbekommen.‘ Sie sass aber aber etliche
Meter von Chaplin entfernt und sie meinte das in allem Ernst.“
Eilig hat es Chaplin nicht gehabt mit einem neuen Film
anzufangen, nachdem er von seiner Weltreise zurückgekommen
ist. Hollywood im Juli 1932: An einem Weekend, als der
Produzent Joseph Schenk ihn auf seine Yacht einlädt, lernt er
Paulette Goddard kennen, die Ziegfield Girl gewesen
ist, mit blonden Haaren herumläuft und ein paar kleine Filmrollen
bekommen hat.
Im nächsten Sommer hat Chaplin – Panacea nennt er sie
– für sich und Paulette Goddard eine eigene Yacht:
Schlafkabinen für vier Personen, Platz für bis zu zwanzig Leute.
Hier, auf der Panacea, beginnt die Arbeit am Scenario
für Modern Times.
„Large city – early morning rush of commerce – showing
subway street traffic – newspaper printing office – factory
whistles – ferry boats – ambulance, fire engine – motor traffic –
introducing a comedian in complete contrast – calm,
nothing to do – business crossing the road – klaxon – policeman
belching – mistaken for klaxon – stick business and grating
outside store window – search for work – different jobs
and fired from each“, lautet eine frühe Notiz, die David Robinson
zitiert.
Noch sind‘s keine Schafherden, die ins Schlachthaus,
keine Arbeitermassen, die in die Fabrik getrieben werden, aber
man sieht sie kommen.
Paulette Goddard ist on and off screen Chaplins neue Frau:
als er sie, die knapp über zwanzig ist, kennenlernt, hat
sie einen Ehemann und ihren richtigen Namen – Pauline Levy
– bereits hinter sich gelassen.
Photoplay veröffentlicht Mitte der Dreissigerjahre
einen Artikel über die glücklichsten unverheirateten Paare
in Hollywood, unter ihnen Gable und Lombard,
Chaplin und Goddard, und löst einen Sturm der Entrüstung aus
– bald heiraten die meisten, Chaplin und Goddard geheim.
Zuvor spielt sie in Modern Times die Gefährtin, mit
der Charlie am Ende – Schlusstitel Don‘t buck. Never say die. –
die Landstrasse davonzieht. Die Rolle, sagt Paulette
Goddard später in Life, „was absolutely me. There is something
in my character of the barefoot gamin. Charlie understood me.“
Modern Times Clippings