CHARLIE CHAPLIN in THE IMMIGRANT Poster, Motography, June 23, 1917

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EINMALIG 4/5


The Immigrant, sagt Chaplin später, habe ihn

mehr berührt als jeder andere Film, den

er gemacht habe. Die von Überfahrt und Ankunft

handelnde Einwanderergeschichte verbindet

Gelächter und Mitgefühl auf meisterhafte Art. Clippings.



               Fritz Hirzel, Chaplins Schatten.

               Bericht einer Spurensicherung. Zürich 1982


Vorbei war es mit der Gewohnheit, dass Chaplin jeden Monat

mit einem neuen Film in die Kinos kam. Ein Vierteljahr

hatte es gedauert, bis The Cure gestartet werden konnte,

und auch die letzten beiden Filme, die letzten für 1917

überhaupt, brachte Mutual unregelmässig heraus, im Juni

The Immigrant und im Oktober The Adventurer.

      500 Kopien waren es inzwischen, die von jedem dieser

Filme gezogen wurden, allesamt Zweiakter, deren

Produktionskosten inklusive Chaplins Gage auf nahezu

100 000 Dollar angewachsen waren.

      Und obwohl die Amortisation solcher Summen keine

Frage war, sah es so aus, als sollten die Filme im Laufe der

Jahre paradoxerweise eine Wertsteigerung erfahren.

Kinos, welche 50 Dollar täglich für eine Mutual-Komödie

bezahlten, die neu herausgekommen war, mussten

für den gleichen Film sechs Jahre später das Vierfache

hinblättern.

      Noch etwas hatte sich geändert: die Menge des

Negativmaterials, das Chaplin verbrauchte. An die 20 000 Meter

sollen es bei The Immigrant gewesen sein, ein immenses

Rohmaterial für eine zweiaktige Komödie, die im Endeffekt nicht

ganz 600 Meter Länge hatte, eine knappe halbe Stunde

Vorführdauer.


Nicht wieder zu erkennen

Kein Zufall also, wenn Carlyle R. Robinson, der neueingestellte

Presseagent, noch Greenhorn bei Lone Star–Mutual, die Energiereserven seines Chefs erst richtig erkannte, nachdem die

letzte Szene zu The Immigrant geschossen war und

es an die Eliminierung dieser Überfülle von Filmmaterial ging. 

      Während vier Tagen und Nächten, in denen er sich

kaum eine Pause, kaum Schlaf gönnte, wurde der Zweiakter

montiert. Und als der Film zuletzt geschnitten war,

da hatten selbst seine Freunde Mühe, ihren sonst so gepflegten

Chaplin wieder zu kennen.

      Kräftig angewachsene Bartstoppeln, schmutziges,

zerwühltes Haar, ohne Kragen, verwildert und dreckig, so trat

er aus dem Schneideraum schliesslich heraus, ein bisschen

zögernd in die Sonne blinzelnd wie nach einem Fieber,

das er gerade überstanden hatte: The Immigrant war fertig!

      Mehr noch: erneut war es Chaplin gelungen,

die Exploits seiner Komik in eine epische, melodramenhafte

Handlungslinie einzubetten, in dieser von Überfahrt

und Ankunft handelnden Einwanderergeschichte Gelächter

und Mitgefühl auf meisterhafte Art zu verbinden, nicht

ohne poetisches Feeling, wie er meinte, speziell aufs Ende

des Films bezogen.

      Immerhin äusserte er später, The Immigrant habe ihn mehr

berührt als jeder andere Film, den er gemacht habe.


Unerwartet

Die Geschichte beginnt mit der Überfahrt, unter den

Passagieren an Deck eines drittklassigen Ozeandampfers, der

im Seegang zu schaukeln nicht aufhört.

      Hier ist Charlie zuerst nur von hinten zu sehen, wie er mit

dem Rücken zur Kamera an der Schiffsbrüstung steht,

wie ein Seekranker tief über sie gebeugt sich hinauslehnt, mit

einem Schüttelkrampf in den Schultern, als müsste

er sich übergeben.

      Dann richtet er sich plötzlich auf, und wir erkennen düpiert,

wie er am Ende einer Schnur lachend einen eben gefangenen

Fisch an Bord zieht.

      Was er hier getan habe, sei nichts anderes als eine

vorsätzliche Irreführung des Publikums, meinte Chaplin in What

People Laugh At, einem 1918 im American Magazine

publizierten Aufsatz, den allerdings Rob Wagner, sein Freund

und Ghostwriter, für ihn zu Papier gebracht hatte.

      Darin führte er das Überraschende, das Unerwartete

als ein Beispiel dafür an,  wie sich im Film Lacher erzielen lassen,

nicht ohne eingangs zu betonen, für ihn sei es ein Spass

sich auszumalen, was das Publikum erwarte, und dann etwas

anderes zu tun.


Holzbänke

Hoffnung, Strapazen, aber auch Ernüchterung angesichts

der Neuen Welt – dies alles hat er in The Immigrant festgehalten.

Zum Essen besammeln sich die Einwanderer, kaum hat

der Stewart mit der Glocke zu läuten begonnen, in hungriger

Eile auf den Holzbänken im Speiseraum.

      Eine dicke, hingefallene Frau, Henry Bergman spielt sie,

rollt im Takt des Seegangs wie ein Fass über den Boden. Und

Charlie, der ebenfalls zu Fall kommt, rollt auf ihr mit.

      Das Essen kommt. Er verzehrt es mit seinem Gegenüber,

einem russischen Juden, abwechslungsweise aus

einem und dem selben Teller, der mit der Schwankung des

Schiffes ohnehin auf dem Tisch zwischen den beiden

pausenlos hin und her rutscht.

      Dann macht Charlie einer jungen Frau, Edna Purviance,

Platz, welche die Reise mit ihrer kranken Mutter angetreten hat.


Glück

Draussen, an Deck, lässt er sich mit einer Runde

undurchsichtiger Spielergestalten ein, doch zunächst hat er

beim Würfeln Glück, unheimliches Glück, und erst, als

er mit dem Gewinn abziehen will, wird es für ihn bedrohlich.

      Einer der Spieler, der kräftigste der Halunken, der soeben

die kranke Mutter auf der Schiffsbrücke um all ihr

Geld bestohlen hat, zwingt ihn weiterzuspielen, diesmal

mit Karten.

      Und wieder gewinnt Charlie, aber Glück, das ist ihm

unterdessen klar geworden, will verteidigt sein, notfalls mit dem

Revolver. So also, bewaffnet, geht er ab, nicht ohne den

Hut zu lüpfen, und setzt sich, um die ihm zugefallene Beute zu

ordnen und einzustecken, in die Nähe der jungen Frau

und ihrer Mutter.

      Und da, als er erfährt, dass die Mutter bestohlen

worden ist, steckt er unbemerkt ihr eine der Noten zu, holt sie

zurück, nimmt das volle Bündel, schiebt es ihr in die

Tasche, holt auch dieses nochmals zurück, nimmt eine der

Noten wenigstens an sich und steckt den Rest ihr zu.

      Wieder also die Gerechtigkeit, nochmals auf einer anderen

Ebene: ein Schiffsoffizier hat alles beobachtet, beschuldigt

Charlie des Diebstahls, ruft Edna, die junge Frau, hinzu – da klärt

sich alles auf, und Edna, der Sache auf die Spur gekommen,

fällt Charlie um den Hals.


Ankunft

Endlich ist es soweit! Die Einwanderer drängen sich auf der

Schiffsbrücke zusammen, wie ein erträumtes Versprechen zieht

die Freiheitsstatue an ihren Augen vorbei, dann ein Schnitt.

      Und wir sehen, wie ein Einwanderungsbeamter die Menge

mit einem Absperrseil zurückdrängt, zusammengepfercht

stehen die Einwanderer da, jeder mit einer Etikette behängt.

      Im Gedränge Charlie, der diesem mit dem Sperrseil

sie zurückbindenden Polizisten noch einen Absatzkick

versetzt, bevor er Edna und ihre Mutter in der Reihe

der Abgefertigten aus den Augen verliert, mit einem Fusstritt

hart aus seinen Träumen geweckt und zum Tisch des Einwanderungsbeamten gewiesen wird.

      Bewundernswert nicht zuletzt, wie es Chaplin gelang,

The Immigrant bruchlos in den zweiten Teil überzuführen, der

Charlie einige Zeit später in der Stadt zeigt, mit

zerbrochenen Hoffnungen. Later – hungry and broke.


Wiedersehen

Da sehen wir ihn, wie er vor einem Restaurant eine Münze

einsteckt, die er auf dem Bürgersteig gefunden hat, und

beglückt ins Lokal eintritt.

      Drinnen setzt er sich an einen Ecktisch, wo noch ein Gast

sitzt, doch bevor er noch bestellen kann, kommt es mit

dem verzweifelt zur Decke feixenden Hünen von Kellner, Eric

Campbell notabene, zu einem handfesten Disput

um seinen Hut, den er verständnislos aufbehalten will.

      Die Erbsen befördert Charlie, so glaubt der Tischnachbar, der angewidert aufbricht, gesehen zu haben, mit Messer

und Gabel einzeln zum Mund, wenn sie nicht plötzlich in die

Kaffeetasse fallen.

      ihn aber kümmert das nicht – unversehens hat er im Lokal

die junge Frau, die mit ihm auf dem Schiff war, wiederentdeckt,

Edna, deren Mutter inzwischen gestorben ist.

      Er bittet sie zu sich herüber, bestellt auch ihr ein Essen,

aber kaum sitzen sie beisammen, sich ihres Wiedersehens zu

erfreuen, müssen sie mitansehen, wie an einem der

Nebentische ein Gast, nur weil er zehn Cents zu wenig hatte,

von den Kellnern der Zechprellerei bezichtigt und

zusammengeschlagen wird.


Zechpreller

Eilig hat Charlie, durch diese Prügel gewitzigt, mit den

Fingern zu rechnen begonnen, hat ängstlich angefangen, in

seinen Taschen nach der Münze zu grabschen, die er

auf einmal nirgends mehr finden kann.

      Verzweifelt sitzt er da, es ist ihm peinlich: auch als der

Kellner, dieser Hüne, ihm die Rechnung gibt, hat er

nichts gefunden als ein Loch im Hosensack.

      Doch damit nicht genug: Chaplin verstand es, den Einfall

weiter zu variieren und ihn, ohne je bemühend zu wirken,

zu einer der erfindungsreichsten Abwandlungen auszubauen,

die sich im Kino von einem einzelnen komischen Vorfall

ausdenken lassen.

      Im Restaurant kreuzt ein ärmlicher Typ auf, der die

vermisste Münze neugierig in den Händen dreht, am Nebentisch

einen Kaffee bestellt und mit ihr bezahlt.

      Beim Einkassieren fällt sie dem Kellner, dieser Hünengestalt,

unbemerkt zu Boden, und Charlie gelingt es, nachdem

erst der Kellner seinen Schuh drauf hatte, sie an sich zu bringen,

freilich nur mit Ablenkungsmanövern, die ihn vollends

suspekt machen.

      Kurzum, als Charlie mit der Münze bezahlen will, beisst

der Keller mit den Zähnen drauf und merkt, dass sie falsch ist. Es

nützt Charlie nichts, unter den Tisch zu sinken: die Rechnung,

die kann er nicht bezahlen.


Trinkgeld

Und als ein Kunstmaler, ein wohlgenährter, bärtiger Kerl,

der Charlie und Edna portraitieren möchte, die Rechnung für ihn

begleichen will, ziert Charlie sich und lehnt entschieden ab.

      Natürlich besteht der Kunstmaler nun erst recht

darauf, genauso wie Charlie, der sich ein drittes, ein viertes Mal

ziert, nur dass er das Pech hat, es einmal zuviel zu tun,

und tatsächlich auf der Rechnung sitzen bleibt.

      Aus der Patsche, das ist die Schlusspointe, rettet Charlie

sich zuletzt, indem er seine Rechnung dem Teller mit dem

Trinkgeld anvertraut, das der Kunstmaler zurücklässt, nachdem

er selbst bezahlt hat. Draussen, vor dem Restaurant,

gelingt es Charlie noch, von ihm einen Vorschuss zu ergattern.

      Dann, im Regen auf der Strasse, kommen sie an

einem Standesamt vorbei. Und Charlie zieht Edna, die erst

davonlaufen will, mit dem Spazierstock heran, ehe er

sie über die Schwelle trägt und beide in der Tür verschwinden.

      Es war nicht ohne Ironie, dieses Happy End im Regen,

auch wenn Chaplin in Erinnerung ans Schlussbild nie

gemunkelt hätte, wie schwer Edna Purviance da inzwischen

geworden sei – seine Freundin, seine Partnerin, für die

er eine Marriage Licence nur im Film beantragte.


Freiheit

Um seiner Handlung eine Stimmung mitzugeben, hatte

Chaplin angefangen, während der Dreharbeit Musik spielen

zu lassen, sodass sich neben dem Set ein Orchester

en miniature zu installieren hatte.

      Die zärtlich-wehmütige Melodie eines alten Liedes,

dessen Titel Mrs. Groundy war, diente Chaplin dazu,

ein Gefühl für das traurig-verregnete, am Ende ins Trockene sich

flüchtende Paar aus The Immigrant heraufzubeschwören.

      Musik also, um eine Szene mit Stimmung zu imprägnieren,

um den Aktionen im Bilderfluss einen Rhythmus zu geben: ein

Beleg mehr dafür, wie wenig Stummfilme stumm waren.

      Allerdings blieb The Immigrant weit davon entfernt, als trister,

durchwegs leiser Film zu wirken, vor allem dort nicht,

wo im Bild politische Satire durchbrach wie bei den angesichts

der Freiheitsstatue zusammengepferchten Einwanderern

auf ihrem im Hafen von New York einlaufenden Schiff.

      Gewiss, das war nicht der Film, mit dem Chaplin sich in

Amerika hätte beliebt machen können, schon gar nicht in einer

Situation, in der Zeitungen erstmals die im Laufe der

Jahre regelmässig wiederkehrende Frage stellten, warum er nicht

daran dächte, sich in den USA einbürgern zu lassen.

      Nicht zufällig war es ausgerechnet diese Szene mit der

Freiheitsstatue, auf die sich die Surrealisten 1927 beriefen, als

sie zum Scheidungsskandal mit Lita Grey in einem

Pamphlet Chaplin verteidigten.

      „Wir erinnern uns an das tragische Schauspiel der wie Vieh

etikettierten Drittklasspassagiere auf der Schiffsbrücke,

an die Brutalität der Staatsvertreter, die unter dem klassischen

Blick der die Welt erhellenden Freiheit die Frauen abtasten.“



The Immigrant Clippings


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