detail; Fritz Hirzel Archiv. Cartoon; Vanity Fair, Dec. 1916

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CORSIER 2/2


Konvoi – So oft wir aus den Widersprüchen in Chaplins Existenz als Bürger, als Privatperson klug zu werden suchen, bleibt eine Frage letztlich unbeantwortet: Was war er für ein Mann? was hat ihn umgetrieben?

was ihn verfolgt sein Leben lang?



               Fritz Hirzel, Chaplins Schatten. Bericht einer

               Spurensicherung. Zürich 1982


Es regnete in Strömen, ein wattierter grauer Himmel

verhüllte den Fernblick auf Savoyeralpen und Lac Léman.

      In zwanzig Minuten war die Beerdigung,

die in engstem Familienkreis stattfinden sollte, in aller Stille

abgewickelt, ein Begräbnis, dem kaum mehr als dreissig

Trauergäste beiwohnten, Familienangehörige, engste Freunde,

Hausangestellte des Verstorbenen, eine spärliche, unter

aufgespannten Schirmen zusammengedrängte Trauergesellschaft.

      Hinter dem Leichenwagen ein Konvoi, in der Kolonne zwei

Rolls Royce, schwarze Limousinen, ein Mercedes, ein Kleinbus.     

So waren sie von Manoir de Ban, dem mit einer dunklen,

mit Christbaumkugeln behängten Tanne im Park weihnächtlich

geschmückten Herrschaftssitz, in ihren Autos losgefahren,

die Strasse zum Dorf hinunter, an der Kirche vorbei zum mit

Zypressen bewachsenen, winzigen Gemeindefriedhof

von Corsier sur Vevey.

      Ein paar Dutzend Zaungäste hatten sich eingefunden,

für die Pressefotographen waren Sperrgitter errichtet worden.

Es gab ein paar wenige, sich auffallend gleichende Fotos

vom Begräbnis, die von den Agenturen verbreitet wurden und

anderntags in den Zeitungen zu finden waren.


Mitgenommen

Stets stand in ihrer Mitte Oona, bleich, müde, abgespannt, Witwe

nun, sichtlich gealtert, mit leicht verbittertem, abgehärmtem,

durch eine dunkle Brille halbverdecktem Gesichtsausdruck, mit

einem Kopftuch angetan, in Pelzmantel und Stiefeln.

Mitgenommen sah sie aus, sehr, sehr müde.

      Neben ihr Josephine, die zweitälteste Tochter,

einen Damenschirm in der Hand: langes Haar, dunkle Brille,

mit ersten Falten um die Mundwinkel herum, bald

dreissigjährig inzwischen.

      Hinter den beiden, fast einen Kopf grösser, durch

Dazwischenstehende von ihnen getrennt, war Sydney zu

erkennen, ein Sohn Chaplins aus früherer, aus zweiter

Ehe, unter einem Schirm stehend, mit weissem, gepflegtem

Kinnbärtchen, das Gesicht gebräunt, fleischig.

      Bis auf Geraldine, Oonas älteste Tochter, von der

es hiess, sie sei in Spanien durch Dreharbeiten zurückgehalten

worden, war die Familie vollständig versammelt.

      Oona zur Linken stand Michael, ihr ältester, einst als

Hippie gegen den Vater, den Millionär, rebellierender

Sohn: in kurzem Haarschnitt nun, mit schwarzem Anzug

und Krawatte.

      Obwohl Chaplin mit der Kirche zeit seines Lebens

nichts im Sinn gehabt hatte, waren zwei anglikanische Geistliche

aufgeboten worden, um ein paar Gebete zu sprechen.


Hinabgesenkt

Oona wartete gar nicht erst ab, bis der Sarg in der Erde

versank. Wozu auch hätte sie noch ausharren sollen?

      Hatte sie ihren Mann nicht lange genug versinken

gesehen? Ein unter Wolldecken begrabenes, pflegebedürftiges Gespenst, das mit Gemüse, Früchtekompott und

gehacktem Fleisch zu füttern war.

      Ein Rollstuhlfahrer, der wie ein Invalider herumgeschoben

werden musste, ein sabbernder Greis, der sich seit

Monaten keinen Schritt mehr fortbewegen konnte, nahezu

paralysiert, als er 1977 am Weihnachtstag 88jährig

um vier Uhr früh gestorben war, die letzten Stunden offenbar

im Koma liegend.

      Nachdem Oona, seine Witwe, den Friedhof verlassen

hatte, blieben für die Pressefotographen nur einige der Jüngeren

des Chaplinklans im abgesperrten Bezirk zurück, um mit ein

paar Freunden reglos vor der offenen Grube zu stehen, in welche

der schwarzbedeckte Sarg hinabgesenkt wurde.

      Das Grab glich einem einzigen, imgrunde fröhlich wirkenden

Blumenhügel, übersäht mit Dutzenden von Rosen,

roten vor allem. Aus den Blumengebinden schauten die

Schärpen ihrer Spender mit den letzten Grüssen.

      Circus Knie, den Chaplin stets besucht hatte, winkte

auf einem Band dem Freund und Vorbild nach, das Personal von

Manoir de Ban, der Residenz, seinem patron, auch Gemeinde

und Société de Developement von Vevey waren mit

Kränzen vertreten und nicht zuletzt eine Familie Ivanovitsch:

Dernière adieu à Charlot!


Getrieben

Spätestens hier aber drängen sich, falls wir tatsächlich

versuchen wollen, Chaplins Person und Vita zu entmythologisieren, einige Fragen auf.

      Gab es überhaupt irgendwelche Leute ausserhalb des Herrschaftssitzes, die dem altgewordenen Chaplin, der die letzten

Jahre in zunehmender Isolation verbracht hatte, noch ernstlich

verbunden gewesen wären?

      Was wissen wir von diesem Mann, der zuletzt ein

Vierteljahrhundert in der steuergünstigen Schweiz, in einer Art

von selbstgewähltem Exil verlebt hatte?

      Was war ihm geblieben aus den vier Jahrzehnten seiner

produktiven Zeit, die ihm drüben, in den USA, beschieden gewesen

waren, was von den Skandalen, von den Pressekampagnen,

die um seine politischen, um seine sexuellen Aktivitäten herum

entfacht worden waren?

      So oft wir auch versucht haben, aus den Widersprüchen

seiner Existenz als Bürger, als Privatperson klug zu werden, ist

eine Frage letztlich unbeantwortet geblieben: Was ist er

für ein Mann gewesen, was hat ihn umgetrieben, was hat ihn

verfolgt sein Leben lang?


Gewollt

Zweifellos war er seit seiner Kindheit in South London ein Mann

mit vielerlei Gesichtern, doch den Zeitgenossen, die sich

jahrzehntelang die Legende vom Millionär aus dem Armenhaus

weitererzählten, genügte es festzuhalten: ein genialer

Mime, ein Filmkomiker, der grösste von allen.

      Doch was immer aus dem Kino, diesem Vehikel der

Massenunterhaltung, inzwischen geworden war, etwas, so

schien es, stimmte bei Chaplins Begräbnis nicht.

      Unter den Kranzgebinden kein Abschiedsgruss, der

wenigstens angedeutet hätte, dass hier ein Mann begraben lag,

der mit dem Film zu seinem Erfolg gekommen war, zu

schweigen davon, dass er in der Geschichte nicht nur des

Kinos zu den populärsten gehört hatte.

      Unter den Trauergästen nicht einer, der einst in Hollywood

zu den Stars gehört hatte. Kein Glamour, keine Prominenz,

kein Massenauflauf. Einziger offizieller Vertreter: der britische

Botschafter aus Bern.

      No Hollywood pomp at Geneva funeral of the

naggy-trousered tramp, titelte denn auch The Daily Telegraph.

Gewiss, sie hatten es so gewollt: eine stille Beerdigung

im engsten Familienkreis. Nur können wir uns fragen: Wären

massgebend mehr gekommen, wenn sie es anders

gewollt hätten? 


Überlebt

War es nicht eher so, dass ein Idol hier seinen Zenit

um einige Jahrzehnte überschritten hatte und zum Fossil

geworden war?

      Völlig durchnässt zogen um zwölf Uhr mittags die

letzten Fernseh- und Filmequipen aus dem Friedhof von

Corsier ab, Leute aus dem Dorf kamen vorbei,

einfache Leute, ein Eisenbahnarbeiter, ein Briefträger,

Hausfrauen, ein älteres Ehepaar, Schulkinder.

      Ein neugieriger, achtjähriger Bub blieb minutenlang

im Regen stehen, sein Haarschopf triefend, Turnschuhe an den

Füssen. Alles, was er von Chaplin kannte, war ein Film

mit Charlot, den das Fernsehen zu Chaplins Tod gesendet hatte.

      Der Kleine stand allein auf dem ausgetretenen,

aufgeweichten Rasen vor dem Blumenhügel des Grabes

und fragte: „Liegt er nun da unten mit seinem Schnauz

und seinem Stock?“ Ein Mythos hatte seinen Schöpfer überlebt.

      Natürlich war es nicht der Tramp, der in Corsier

oberhalb Veveys unter der Erde lag, nicht der kleine Mann mit

seinem Schnauz und seinem Stock: der existierte nur

als Schatten,  als Gestalt auf der Leinwand, und war vor

etlichen Jahrzehnten dort zum letzten Mal in einem

neuen Film erschienen.


Schulterklopfen

Der Tote, dem auf dem Friedhof über dem Lac Léman das

vielzitierte, schlichte Begräbnis zuteil wurde, war ein in luxuriöseste Umgebung eingebetteter, greisenhafter Millionär gewesen,

dessen Äusserungen die Mitwelt hätte Zeichen eines Erinnerungsschwundes entnehmen können, längst bevor er sich

von der englischen Königin in den Ritterstand hatte

erheben lassen, um die ihm noch verbleibenden zwei, drei Jahre

als Sir Charles im Rollstuhl zu verbringen.

      Wäre ein Nachfahre des Tramps, des Vagabunden

je in Manoir de Ban aufgekreuzt, er hätte die Portale des

Herrschaftssitzes verschlossen gefunden.

      Chaplin, wenn auch ein Pflegefall zuletzt, zittrig, mit krankhaft

aufgedunsenem Gesicht und weissem Haar, hatte in

einer anderen Welt gelebt, in einer Welt der Hotelsuiten und

der Bediensteten.

      Und doch war es bezeichnend, wenn ihm bis zuletzt Attribute

des Tramps angedichtet wurden, bezeichnend für die

Faszination, die der Mythos des Tramps bei den Kinogängern

noch immer in Bewegung setzte.

      Von Chaplin sprachen die Leute stets ein bisschen mit

dem Schulterklopfen der Kollegialität, die eigentlich dem Tramp,

der Figur auf der Leinwand, zu gelten hatte.


Geleier

Noch einmal verwischten sich die Konturen, als die Zeitungen

bei seinem Tod im Stil einer Gebetsmühle die gewohnten

Abziehbilder herunterleierten und statt Sir Charles den Tramp

begruben.

      La Mort du vagabond titelte die in Genf erscheinende

La Suisse, ein Blatt aus der näheren Umgebung

gleichsam. Charles Chaplin, The Immortal Tramp of International

Cinema, Dies At 88: so stand es in Variety, dem

marktgerechten, jenseits des Atlantiks redigierten Branchenblatt.

      The Little Tramp Leaves the Stage: das war die Art, in der

The New York Times die Nachricht überschrieb. Der

Tenor der Nachrufe: salbungsvoll bis versöhnlich, aber ohne

Inspiration, imgrunde gelangweilt, als gelte es, sich

einer müden Pflichtübung zu unterziehen.

      Nichts war vom Enthusiasmus geblieben, mit dem die

Intellektuellen einst Charlie, die Leinwandfigur, entdeckt und

begrüsst hatten! Hatte Blaise Cendrars, der Schriftsteller,

nicht einst behauptet, die Deutschen hätten den Ersten Weltkrieg

verloren, weil sie Charlie nicht gekannt hätten?


Geboren

Unbestritten ist gewiss, dass wir uns das Hinterland der

Alliierten, die Jahre der Schützengräben und des Fronturlaubs

zu vergegenwärtigen haben, wenn wir der Geburt dieses

Kinomythos auf die Spur kommen und erfahren wollen, vor

welchem Hintergrund die Figur des Charlie ihre

unheimliche Popularität erlangte.

      Stellen wir uns jene Wochen, jene Monate vor, in denen

der Erste Weltkrieg nicht zuende gehen wollte, jene Zeiten mit

immer ungedeckterem Bedarf nach Ablenkung, nach

Zerstreuung, jene verdunkelten Jahre, in denen die Kinotheater

sich gerade erst vom Odium der Stehbierhallen befreiten.

      Jene Stunden des aus den Zuschauerbänken mit Spott und

Hohngelächter übergossenen Hintertreppenromans,

der finsteren, von Klavierbegleitung untermalten Salon- und

Erbschaftsintrige, der ausser Atem geratenen Wirklichkeit

des Lebens auf der Leinwand, der Rührung angesichts der Heldin

des Melodramas, der im Widerschein der Handlung feucht

gewordenen Augen.

      In jener Umgebung war sie erstmals aufgetaucht, die

kleine, geradezu schamlose Gestalt mit ihrem Schnauz, dem

Stock und der Melone.

      War aufgetaucht als ein Herumtreiber mit zweifelhaften

Ambitionen und hatte sich Zugang verschafft zu den Sympathien

der Kinogänger, die den watschelnden Gang mit Lachtränen

erwiderten, nicht zu reden vom Riesengelächter, wenn

der Dahergelaufene am Schluss den Hut zu lüpfen und Reissaus

zu nehmen hatte, auf einem Bein kurz um die Ecke hüpfend.


Gelacht

Eröffnet wurden die Programme, kaum noch einem

Fanfarenstoss gleich, mit der jüngsten Ausgabe des Journals

der Kriegsberichterstattung, den immer hohler und

ungeniessbarer gewordenen Erfolgsmeldungen von der Front.

      Dazu gab es Wochenschaubilder mit verwundeten

Soldaten, die eben in der Schweiz ankamen, Aufnahmen aus

einem Tuberkulosespital in den Bergen.

      Ihren Erlebnishunger jedoch stillten die Leute im anderen,

im fabulösen Teil der Vorstellungen, die nicht mehr

nur aus unteren Schichten Zulauf hatten.

      Die Flucht aus der Alltagswelt, hier war sie billig zu haben;

und stets sassen in den ausnehmend gut besuchten

Vorstellungen auch Soldaten, solche, die im Feld gewesen

waren, und solche, die ein Mädchen auszuführen hatten,

bevor sie selber an die Front mussten.

      Gab Charlie, dieser Einzelgänger, diese lachhafte

Verschränkung von menschlicher Blösse und verzweifelt

hochgehaltener Würde, nicht mit einem Augenaufschlag,

mit einem Schulterzucken zu verstehen, dass die

Welt ihm ungerührt den Buckel herunterrutschen konnte?


Erpresst

Wo immer Chaplin mit einem Einakter, mit einem Zweiakter

auf dem Programm stand, sprach es sich herum: hier

kam einer, der zum Lachen befreite, sagenhaft und ungeahnt

in seiner Wirkung.

      Von weit her, aus unsichtbarer Ferne, war er in jenen

Wochen, jenen Monaten auf die Leinwand gekommen,

und doch erzählten die Kinogänger am Ende des

Ersten Weltkriegs von Charlie, diesem Wechselbalg aus

Hoch und Tief, als lebte er gleich um die Ecke,

mitten unter ihnen.

      Die Erinnerung an Charlie, ans Gelächter und die

Begeisterung, die er einst bei den Massen wachgerufen hatte:

wo war all das geblieben? Und was hatte Chaplin,

der Millionär, damit zu tun, von dessen Begräbnis wir

ausgegangen sind?

      Als wäre seine Abdankung im Regen und dem Nebel

in den über dem Lac Léman ansteigenden Rebhängen

irgendwie doch zu geräuschlos verlaufen, kam es zu einem

Nachspiel, das dem Ganzen einen Zug ins Groteske,

ins Makabere verlieh, das dem Verstorbenen ebenfalls nicht

fremd gewesen war.


Gepflügt

Zwei im schweizer Exil lebende Osteuropäer hatten den

Sarg aus dem Friedhof gestohlen und sich vergeblich bemüht, für

dessen Rückgabe ein Lösegeld von 1, 2 Millionen Franken

zu erpressen.

      Im frisch gepflügten Acker eines Maisfeldes, eine halbe

Autostunde vom Tatort entfernt, wurde der Sarg nach

Verhaftung der Grabschänder gefunden und, nachdem ein

Präparator des Gerichtsmedizinischen Instituts der

Universität Lausanne ihn geöffnet und versichert hatte, die

Leiche Chaplins befinde sich in gutem Konservierungszustand, 

auf dem Friedhof von Corsier zum zweiten Mal ins Erdloch

gesenkt, in welchem er nun allerdings einbetoniert wurde.

      Zwei Dilettanten, nicht besonders nervenstarke Amateure,

die über Nacht mit ihrem Coup ans grosse Geld zu

kommen hofften, hatten das stilvoll auf Bescheidenheit hin

inszenierte Begräbnis von Chaplin Lügen gestraft

und trotzdem ihren Denkzettel erhalten: so einfach war Geld

auch nach dem Tod des Millionärs aus Manoir de Ban

nicht herauszubekommen.


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www.fritzhirzel.com


Chaplins Schatten

Bericht einer Spurensicherung









The Immigrant Scene. Chaplin in a magazine photo, published nine months

before his death, Dec. 25, 1977,