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Behind the Screen Clippings 92/93

Kurt Tucholsky, Prager Tagblatt, July 22, 1922.

Poster for Easy Street, german title Chaplin als Stütze

der öffentlichen Ordnung


„Und blitzschnell taucht er wieder unter“

Editorial content. The german title for Behind the Screen

      is Chaplin bei Anna Boleyn. In Berlin the film

      has its first run at the Ufa Palast am Zoo, July 14, 1922.


Redaktioneller Inhalt. „Kurt Tucholsky:

      Der berühmteste Mann der Welt

                  ,All der Unsinn, den Mister Chaplin macht, kommt

                  nicht aus dem vergeblichen Versuch, klug

                  zu sein, sondern aus den mißlingenden Versuchen.

                  so zu sein wie andere Leute auch.‘

                                                                        Sir John Ervine.

      Kein Parlamentarier ist der berühmteste Mann der

Welt und kein Politiker, weder Wilson noch Poincaré – kein

Erfinder ist es, kein Tenor, kein Flugzeugführer. Der

berühmteste Mensch ist zweifellos Herr Charlie Chaplin, über

den alle einmal gelacht haben: die Pariser und die

Londoner, alle Amerikaner und die australischen Matrosen,

die Besucher der chinesischen Kinos und neuerdings

auch die Deutschen, der alte Kontinent und der neue – und daß

der Mars noch nicht über ihn gelacht hat, liegt nur an

der mangelhaften Verbindung zu diesem kinolosen Möbel.

      Mister Chaplin geht so:

      Die Gegend betritt ein kleinerer Mann mit einem kleinen

schwarzen Hütchen, einem Stöckchen, einem

Schnurrbärtchen. Er geht, wie noch nie ein Mensch auf

dieser Welt gegangen ist: er watschelt rasch und

eilfertig auf zwei Füßen, deren Spitzen ganz nach auswärts

gedreht sind. Er hat schwarze, fast traurige Augen,

und er sieht bekümmert in die Welt, weil es nun doch gleich

einen Kummer geben wird. Richtig, da ist er.

      Der Kummer ist ein dicker Mann, ein roher Bursche von

ungeheurem Format, mit dem Herr Chaplin sofort

aneinandergerät. Weshalb, ist nicht ganz klar. Diese Films

sind überhaupt nicht ganz klar. Aber es kommt

ja nicht auf ihre Handlungslosigkeit an und auf das Gewirr

von Prügeln, Feuerwehrschläuchen, jungen Mädchen,

auslaufenden Milchflaschen und herunterfallenden Gipsbüsten.

Es kommt auf ihn an, auf Mister Chaplin.

      Aus den acht oder zehn Films, die bis jetzt nach Deutschland

gekommen sind, bleibt eine Fülle von Einzelheiten haften,

deren jede vollendet gespielt ist.

      Mister Chaplin lädt dreizehn Stühle auf seinen Rücken,

sieht aus wie ein Morgensternisches Stuhlschwein

und starrt vor lauter Stuhlbeinstacheln; Mister Chaplin ist aus dem

Gefängnis entflohen, wo die amerikanischen Sträflinge

bekanntlich gestreifte zu tragen haben, und erwacht morgens

im Bett: verwundert und deprimiert gleiten seine

schwarzen, klugen Augen über den gestreiften Pyjama und

über die Gitterstäbe seines Bettes – also doch?

Wieder Gefängnis? – Nein, der Diener bringt den Kaffee.

Und wie Herr Chaplin dann sofort aus dem geduckten

Flüchtling ein feiner Herr wird, mit einer Zuckung der Schulter,

einem ganz unmerklichen Zusammenreißen in den

Augen: das ist schlechthin meisterhaft. Herr Chaplin muß hungrig zusehen, wie ein dicker Mann von vierundzwanzig

Tellern sein Frühstück ißt; dann soll er die leeren Teller abräumen.

Ein Blick, zwei Löffel, und Herr Chaplin beginnt

mit sieghafter Geste auf den Tellern Xylophon zu spielen.

      All diese Einfälle dauern nur einen Augenblick,

das geht alles ganz rasch vorüber, wird mit den sparsamsten

Mitteln exekutiert. Er hat sich hinter einem umgestürzten

Küchentisch verbarrikadiert und bewirft seine Partner mit gebratenen Kartoffelklößen; blitzschnell taucht die Assoziation

,Schützengraben‘ in ihm auf; er ergreift zwei leere Weinflaschen,

steckt den Kopf über den Tisch und beäugt unendlich

strategisch den Feind durch dieses neue Scherenfernrohr – und blitzschnell taucht er wieder unter.

      Er hat eine Komik des Nichtstuns entwickelt, die ganz

ungeheuerlich ist. Der Mann, der sich nicht traut,

durch eine Tür zu gehen, dreimal ansetzt und viermal umkehrt,

ist noch niemals so gespielt worden wie von ihm.

Er sitzt in der Heilsarmee und muß über irgend etwas lachen,

das neben ihm vorgeht – der strafende Blick des

Predigers fällt auf ihn – Großaufnahme: man sieht ihn fröhlich

grinsen, und dann ist das Lachen wie mit einer Zange

abgekniffen. Unruhig ruckelt ein gerüffelter Schuljunge auf

seinem Platz. und ganze Vökerschaften liegen unter

dem Tisch.

      Womit er das alles erreicht, ist völlig unbegreiflich. Manchmal

nur mit einer kleinen Bewegung – er kann mit den

Schultern weinen. Einmal wird einer massiert – – Chaplin

sieht den riesigen Bademeister und sein beklatschtes

und malträtiertes Opfer. Er wird der Nächste sein... Und in den

unergründlichen Augen liegt eine solche Angst, eine

solche tiefe und fast tierische Furcht und dazu ein Gran Ironie,

daß es so etwas gibt... Und er bewegt sich nicht, und

man hört ihn jeden Gedanken denken.

      Er ist so gütig und so feundlich zu aller Welt! Neben ihm

steht ein kleiner Spielhund aus Tuch, ein Spielzeug,

wie es die Kinder haben. Eine Flasche läuft aus und bekleckert

ihm die Hosen. Ingrimmig und chokiert sieht er den

Hund an. Dann stellt es sich heraus, daß es doch die Flasche

war. Und leise streichelnd, mit einer unendlich

zarten Bewegung bittet er das Hündchen um Verzeihung...

      Der Mensch muß eine unerhörte Beobachtungsgabe

haben, ein stehlendes Auge. Er kann die Bewegungen aller

Handwerke nachmachen. Einmal frisiert er den Kopf

eines Bärenbettvorlegers: mit welch femininer Grazie und mit

welch gelangweilter Selbstverständlichkeit er Kamm

und Bürste handhabt und nach dem Schamponieren leicht

und elegant und oberflächlich den naßen Kopf

abrocknet! Das zeigt die natürliche Komik dieses großen

Künstlers. Wenn unsere Mimen auf der Bühne

einen Handwerker nachmachen, dann sieht man, daß sie

ihn niemals beobachtet haben: so klopft kein

Schuster, so schreibt kein Schreiber, so bewegt sich kein

Kutscher. Chaplin kennt sie alle.

      Er bekommt es fertig, nur durch seine Erscheinung andere

Leute lächerlich zu machen. Er braucht nur aufzutreten,

mit dem kleinen Hütchen, mit dem kleinen Stöckchen, mit

dem kleinen Schnurrbärtchen, watscheln auf seinen

unmöglichen Beinen – und alles drum herum hat plötzlich unrecht,

und er hat recht, und die ganze Welt ist lächerlich geworden.

Es gibt ein Bild von ihm aus dem Kriege, auf dem der Zeichner

den deutschen Kaiser abgebildet hat und seine Generäle

– mit starrenden Schnurrbärten und furchteinflößenden Helmen.

Ihre Augen kullern ihnen fast aus dem Kopf, sie sehen

alle auf eine Sache. Denn vor ihnen latscht Chaplin durch den

Saal, sich leise einen pfeifend und unbeschreiblich frech

sein Stöckchen schwingend. Und der ganze Militarismus ist

hinten heruntergefallen.

      ,All der Unsinn, den Mister Chaplin macht, kommt aus den

mißlingenden Versuchen, so zu sein, wie andere Leute

auch.‘ Er hat einmal gesehen, wie der Mixer mixt und wie er in dem

Affentanz von Eisstückchen, Cherrycoblern, Silberbechern

und Herumhantieren an jedem Ei kurz riecht, bevor er es in den

Topf schlägt... Aha, das macht man so. Und wenn

er, Chaplin, mixt, riecht er auch an dem Ei. Aber bevor er es

aufschlägt. Das kommt in der Fixigkeit nicht so genau

darauf an...

      Man sagt, daß er alle seine Filme probeweise Kindern

vorspiele. Wenn das nicht wahr ist, ist es brillant

erfunden. Denn diese Filme mit der nachdenklichen Komik,

mit der lustigen Tragik wenden sich an das Kind im

Menschen, an das, was wohl bei allen Völkern gleich geblieben

ist: an die unverwüstliche Jugendkraft. Er stellt das

primitivste dar, aber das genial. Und er zeigt, wie lächerlich

es ist, ein erwachsener Mensch zu sein, der sich

ernst nimmt.

      Als er einmal von Europa zurück nach Los Angeles fuhr,

begrüßten ihn auf einer kleinen amerikanischen

Station zweihundert kleine Jungen, alle als Mister Chaplin

verkleidet: mit dem kleinen Hütchen, mit dem kleinen

Bärtchen und mit dem kleinen Stöckchen. So watschelten sie

auf ihn zu... und weil er sehr kinderlieb ist, hat er ihnen

allen Guten Tag gesagt.

      Er ist, wie alle großen Komiker, ein Philosoph. Versäumen

Sie nicht, ihn sich anzusehen. Sie lachen sich kaputt

und werden ihm für dieses Lachen dankbar sein, solange

Sie leben.

      Da geht er hin und ruckt nach all dem Kummer an einem

kleinen Hut und watschelt ab und sagt mit den Beinen:

,Auf Wiedersehn –!‘“

      Der deutsche Titel für Behind the Screen ist

      Chaplin bei Anna Boleyn. In Berlin hat

      der Film im Ufa Palast am Zoo Premiere, 14. Juli 1922.


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