Mrs. Charlie Chaplin Ad, Moving Picture World, Dec. 7, 1918
APPETIZER 1/6
Mildred Harris – Chaplin verkehrt im Strandhaus
von Filmproduzent Sam Goldwyn – und dort,
am Strand von Santa Monica, lernt er Mildred Harris
kennen und bringt sie nach Hause. Noch weiss
er nicht, dass sie seine erste Ehefrau werden wird.
Fritz Hirzel, Chaplins Schatten.
Bericht einer Spurensicherung. Zürich 1982
Getroffen haben wollte er sie erstmals am Strand von Santa
Monica, an einem Schauplatz ganz besonderer Art. Sam Goldwyn,
der Filmproduzent, der vor ein paar Jahren noch Samuel
Goldfisch geheissen und als Handelsreisender die Welt mit Handschuhen beliefert hatte, soll ihn angeblich
zum Schwimmen in sein Strandhaus eingeladen haben.
Hier also will er seine kleine, süsse Geliebte zum
ersten Mal gesehen, sie getroffen und heimgefahren haben,
will mit ihr, halten wir es fest, dieses Statussymbol des
sozialen Unterschieds, in die gewaltige, schwarze Limousine
gestiegen sein, deren Türen Kono, sein japanischer
Chauffeur, hinter ihr schloss.
Mildred Harris also, sie war das anonyme, verderbte
Nymphchen, an dem sich alles entzündete: Neugier, Zärtlichkeit,
Leidenschaft. Nicht nur Chaplin, auch anderen war
dieses Kokottchen aufgefallen, ihre zarte, träumerische
Kindlichkeit, die mit einem Schuss neckischer, sich
enthüllender Gewöhnlichkeit daherkam, die gleichgültige Art, mit
der sie ihre schamlosen, unschuldigen Schenkel
auf der Sonnenplanke räkelte, nicht zu denken an die
mädchenhaften Brüste, die sich unter ihrem
Badekleid abzeichneten.
Oder sollen wir vom wundervoll sanften, vom Licht
gestreichelten, langen Haar reden, mit dem ein
zeitgenössisches Portraitfoto sie festhält, vom entzückenden,
leicht verlorenen Dämmerblick ihrer bläulichen Augen,
von ihren geschminkten, schmollend verzogenen Lippen?
Stellen wir sie uns vor, damals im Strandhaus,
wie sie ihm den biegsamen, seidigen, nackten Rücken
zuwandte, über den manch anderer, wie gesagt,
gerne seine behaarte Hand hätte hinauf gleiten lassen?
Und doch war es Chaplin, der Hollywoodmillionär,
bei dem sie unvermeidbar landete – sie, das Starlet, der
zwiespältige Mutterstolz einer im Studio beschäftigten
Garderobenfrau, die mit ihr im Cadillac Hotel in Venice logierte.
Das Filmkind, das schon als Neunjährige vor der Kamera
gestanden hatte, die kleine, angeblich nicht übermässig
talentierte Schauspielerin, die gerade von Lois Weber, einer der
wenigen Frauen, die in Hollywood Regie führten, in einigen
Rollen eingesetzt wurde, in Borrowed Clothes zum Beispiel, in
Price of a Good Time und in For Husbands Only. (...)
Damals, drei Tage, nachdem Shoulder Arms im Oktober 1918
herausgekommen war, heiratete Chaplin, scheinbar
überraschend selbst für Freunde und Vertraute, wider alle seine
anders lautenden Beteuerungen Mildred Harris, seine kleine
Strandgeliebte, die ihm eröffnet hatte, dass sie schwanger wäre.
Der Unhold und die Holde: eine Heiratslizenz sollte alles
legitimieren. Keine Abtreibung, eine wenn auch unfreiwillige Ehe,
wie sich‘s für einen Kavalier gehörte: war das die faire Lösung,
auf die alle sich einigten? Selbst ihre Mutter, die sie immer für viel zu jung gehalten hatte, war bei diesem fait accompli einverstanden.
Es wurde, streng vertraulich, kurzfristig eine Trauung
angesetzt, sie fand in Los Angeles statt, am 23. Oktober 1918,
unter Ausschluss der Öffentlichkeit: ein verstohlener,
verdrängter, übereilig arrangierter Vorgang.
Drauf flüchtete das Paar vor den frustrierten Presseleuten
nach Catalina Island, allerdings nur für eine Woche,
mit vaguen Versprechungen einer Weltreise, die nach zwei
Jahren folgen sollte, einer Reise ausser Sichtweite
einer Filmkamera jedenfalls.
Schon wieder also die Fischgründe von Catalina Island,
Chaplins Fluchtpunkt, die aus dem Pazifik ragende, leicht
erreichbare Inselküste, eine Vergnügungsfahrt von
Los Angeles entfernt. Ein paar Tage nur, das musste reichen;
und doch sollte alles anders werden, als sie zurückkehrten.
Chaplin, der Ehemann: das war eine ihm fremde, eine neue
Rolle, sehr gerufen kam sie nicht. Die bequeme,
anonyme Hotelexistenz war fürs erste jedenfalls vorbei.
An ihre Stelle trat die Villa, die mitsamt Gefolge
in North Hollywood bezogen wurde, 2000 De Mille Drive,
diese Symphonie in Lavendel und Elfenbein, exquisit in jeder
Einzelheit, wie Marjorie Daw, ein mit Mildred Harris
aufgewachsenes Starlet, sie beschrieb.
Die Inneneinrichtung, erfahren wir aus anderer Quelle,
soll maurisch inspiriert gewesen sein: mit dekorativem Design,
der sich modisch jenes orientalischen Stilgemischs
bediente, das bis in die späten Zwanzigerjahre Teil einer Nostalgie
für Exotisches war, der Sehnsucht vergleichbar, die sich
im Kult um Rudolph Valentino äusserte.
Was Mildred Harris angeht, die Lady des Hauses,
Mrs. Chaplin nun: müssen wir sie für die Allerweltsweisheiten
belangen, die sie von sich gegeben haben soll?
Ein glückliches Heim möchte sie haben, soll sie Marjorie Daw
erzählt haben, im weiteren:
Das Problem der meisten Liebesaffären sehe sie darin, dass es
um die Romantik, wenn sich der Alltagstrott erst einmal
eingeschlichen habe, nach der Heirat bald geschehen sei, was
sie auf jeden Fall verhindern wolle.
Mrs. Chaplin: eine seltsame, eine ungewöhnliche Rolle
auch für Mildred Harris. Die Fassade, wir hören es, war errichtet,
sie brauchte nur gestützt zu werden: Mildred Harris tats
beinahe standesgemäss, beinahe.
Wäre sie bloss nicht auf den Vertrag hereingefallen,
mit dem Louis B. Mayer, einer der neuen Studiomogule, dieser
ehemalige Schrotthändler, sie kaperte.
Gewiss, sie hatte ein faszinierend schönes Gesicht, aber
eine Schauspielerin, fand Mayer, eine Schauspielerin mit eigenem
Namen war sie wohl nicht. Die Marktchance, die er in ihr
witterte, bestand darin, dass er sie als „Mrs. Charlie Chaplin“ plakatieren konnte.
Und tatsächlich: die Ehe war kaum geschlossen, da hatte
sie hinterrücks den Vertrag schon unterschrieben, natürlich gegen
den Willen Chaplins, der sich fürchterlich aufregte.
Mit frohlockendem Publicityrummel kündigte Mayer an,
beim ersten Film mit „Mrs. Charlie Chaplin“ handle es sich um
eine Saga vom schiefen Haussegen, die er unter dem
Titel The Inferior Sex herausbringen wolle.
Mildred Harris, Chaplins Kindfrau: glaubte sie selbst
ein Star zu werden? Was ihr Eheleben anging, so gabs enorme
Probleme, dies von Anfang an.
Es gelang ihm nicht, sie bei Gehorsam und Laune zu halten,
sie pochte auf ihre eigene Existenz, mit teenagerhaft überspannten Ansprüchen, die sie einzubringen gedachte.
Auch ihm war nicht entgangen, dass sie sich nichts
zu sagen hatten, vor allem aber: sie hatte aufgehört, die
berückend kindhafte Gespielin zu sein, sie war eine
schwierige Halbwüchsige geworden, deren magisches
Nymphentum sich verflüchtigt hatte. (...)
Und dann, in der Hitze dieses ersten Nachkriegssommers,
als die Schwellung ihres Körpers sichtbar wurde, als sie alles für
das zu erwartende Kind vorbereitet hatte und schwer,
wie sie geworden war, sich umständlich bewegte, als es losging
und plötzlich alles eilte, kam das Desaster:
Eine Mutter, die im Kindbett grösste Schwierigkeiten
hatte und einen Buben zur Welt brachte, der missgebildet war
und nur drei Tage lebte.